Im schiitischen Islam ist Ijtihad ein dynamisches Prinzip, das es qualifizierten Gelehrten ermöglicht, auf neue gesellschaftliche Herausforderungen und komplexe rechtliche Fragen zu reagieren. Anders als in manchen sunnitischen Schulen, die den Gebrauch von Ijtihad nach einer gewissen Zeit als begrenzt oder sogar geschlossen ansehen (Schließung des Tores des Ijtihad), ist im schiitischen Islam die Praxis des Ijtihad kontinuierlich relevant und wird fortgesetzt.
Die schiitische Rechtsschule (Dschafaritische Schule) ermutigt qualifizierte Gelehrte, sogenannte Mudschtahids, zur Ausübung des Ijtihad. Diese Gelehrten werden aufgrund ihrer umfassenden religiösen Bildung, ihrer Kenntnis der arabischen Sprache, ihrer Expertise in den Überlieferungen (Hadith) und ihrer Beherrschung der Prinzipien der islamischen Jurisprudenz (Usul al-Fiqh) als fähig angesehen, rechtliche Urteile zu fällen.
Im schiitischen Kontext ist ein Mudschtahid ein Gelehrter, der als Autorität in religiösen und rechtlichen Angelegenheiten anerkannt ist. Die Gläubigen folgen in der Regel einem Mudschtahid, indem sie seine Urteile und religiösen Richtlinien akzeptieren – ein Prozess, der als Taqlid (Nachahmung) bezeichnet wird. Die Wahl eines Mudschtahid erfolgt auf individueller Basis, wobei die Gläubigen denjenigen auswählen, den sie für den am besten qualifizierten und gottesfürchtigsten Gelehrten halten.
Um als Mudschtahid zu fungieren, muss ein Gelehrter bestimmte Kriterien erfüllen. Dazu gehören:
Der Prozess des Ijtihad selbst basiert auf der Analyse der verfügbaren Beweise aus den primären religiösen Texten, der Anwendung von logischen Prinzipien und der Berücksichtigung des Wohlstands der Gemeinschaft (Maslaha).
Eine Besonderheit im schiitischen Islam ist die enge Verbindung des Ijtihad mit den Lehren der zwölf Imame, die als unfehlbare religiöse Führer betrachtet werden. Während die Imame selbst als Quelle der unfehlbaren Führung und Rechtsprechung galten, war und ist der Ijtihad notwendig, um die islamischen Prinzipien auf neue Kontexte anzuwenden, insbesondere nach dem Verschwinden des zwölften Imams, der als der verborgene Imam (al-Mahdi) angesehen wird. In seiner Abwesenheit haben die Gelehrten die Verantwortung, den Ijtihad auszuüben, um die Gemeinschaft zu führen.
Im heutigen schiitischen Islam, insbesondere im Zwölfer-Schiismus, spielt der Ijtihad eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung religiöser und rechtlicher Antworten auf moderne Probleme. Gelehrte wie der Marjaʿ al-taqlid (eine oberste Autorität in Fragen der Nachahmung) führen den Ijtihad aus, um Fragen des täglichen Lebens, der Ethik, der Politik und des Rechts zu beantworten, wobei sie traditionelle Prinzipien auf zeitgenössische Probleme anwenden.
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